Arbeiten – ja, bitte! Ein eng definiertes Arbeitskorsett – nein, danke! Heute wird immer mehr experimentiert mit Arbeitsmodellen, die allesamt mehr Flexibilität bringen sollen. Viele Schweizer Unternehmen könnten sich dabei eine Menge von Start-ups abschauen.
Von Yvonne von Hunnius
Zeit absitzen, auf Pausen warten, um Schlag 17 Uhr den Rechner ausschalten. «Das war nichts für mich – ich habe mich wie in einem Gefängnis gefühlt», sagt Marina. Sie hat gekündigt, eine Weiterbildung gemacht und jetzt sucht sie einen neuen Job mit mehr Gestaltungsfreiheit. Marinas Chancen stehen gut, immer mehr Firmen wie Swisscom, SBB oder viele IT-Unternehmen experimentieren mit Arbeitsmodellen. Teilzeitarbeit, Homeoffice, Mitunternehmertum, Holacracy – dahinter stecken Konzepte, die mithilfe von mehr Flexibilität Fachkräfte anlocken, halten und produktiver machen wollen. Sunnie Groeneveld berät Unternehmen bei diesen Prozessen und sagt: «Der Arbeitsmarkt war arbeitgebergeprägt – doch jetzt entwickelt er sich zu einem arbeitnehmergeprägten Markt.» Gut ausgebildete Menschen wie Marina haben die Wahl, wohin sie gehen, denn sie werden händeringend gesucht. Deshalb können sie ihre Arbeitsbedingungen mitgestalten und mehr Flexibilität und Eigenverantwortung aushandeln. Den Arbeitgebern bringt das mitunter grosse Vorteile.
Die Zeit ist reif
Täglich neu einen Job suchen und Befehle ausführen wie ein Soldat – das war die Regel in den Fabriken, als der Kapitalismus vor über hundert Jahren an Fahrt gewann. Dann hat man begriffen, dass Menschen wie gut geölte Maschinen funktionieren, wenn sie langfristig an einer Stelle sitzen. Von da an war es ein langer Weg bis in die 80er-Jahre, in denen Mitarbeitenden mehr und mehr ein freier Wille zugestanden wurde. Eine Vorgabe des Chefs konnte plötzlich unterschiedliche Konsequenzen haben, denn die Untertanen durften mitdenken. Dann ging es Schlag auf Schlag – bis heute sogar einige Unternehmen Hierarchien und Chefs ganz abschaffen.
«Die aktuelle Generation hat Flexibilität bisher am lautesten gefordert», sagt Groeneveld. Und jetzt klappt es auch. Die Digitalisierung ermöglicht dank Laptop und Cloud-Tools Flexibilität, die vor wenigen Jahren noch Science Fiction war. Zudem bedeutet der demographische Wandel, dass ein Fachkräftemangel unausweichlich ist. «Meine Generation kann damit rechnen, hundert Jahre alt zu werden – wir alle werden mehr als eine Karriere im Leben machen», sagt Groeneveld, 1988 geboren und Mitgründerin von mehreren Jungunternehmen. 2016 stand sie auf der Handelszeitung-Liste «Who`s Who: Top 50 Digital Leaders of Switzerland». Ihre Firma Inspire 925 begleitet Personalverantwortliche dabei, digitale Lösungen einzuführen, um die Zusammenarbeit bei neuen Arbeitsmodellen zu stärken. Auch veranstaltet sie Workshops, um etablierte Unternehmen und Start-ups zusammenzubringen.
Ein Unternehmen hat viele Unternehmer
Von Start-ups ist viel zu lernen, meint Groeneveld. Denn hier wird nicht nur Flexibilität gelebt. Hier ist Platz für Spontaneität und gleichzeitig trägt jeder Mitstreiter Verantwortung. Mitunternehmertum heisst das Stichwort – im Rahmen grosser Unternehmen spricht man von Intrapreneuren. Mitarbeitende sollen Verantwortung übernehmen, mitdenken. «Unternehmer handeln proaktiv, das heisst, sie hinterfragen bestehende Prozesse, bringen unaufgefordert neue Ideen ein und erkennen Möglichkeiten, die anderen nicht auffallen. Angestellte sind eher darauf bedacht, ihre vom Vorgesetzten zugeteilte Aufgabe zu erledigen. Sie handeln klassischerweise reaktiv. Doch damit bleiben Chancen ungenutzt, die im Wissen der Belegschaft schlummern», sagt Groeneveld. Start-ups schaffen sich Strukturen, die am besten zu Aufgaben passen – in grossen Unternehmen geht es oft darum, in bestehenden Strukturen zu überleben. Wer das sieht, hinterfragt. Ein Ergebnis können agile Organisationsstrukturen im Sinne des Holacracy-Konzepts sein: Der Chef wird zum Koordinator, in den Teams sitzen Experten unterschiedlicher Fachbereiche und tragen Projektverantwortung. Das macht auch den Weg frei für innovatives Denken.
IT-Unternehmen waren hier Pioniere. Diejenigen, die sich am besten auskennen mit den digitalen Tools, die Flexibilität und Mitbestimmung ermöglichen. In der Schweiz ist die Swisscom vorne dabei und führt agile Organisationsstrukturen ein. Aber selten, sagt Groeneveld, werden Konzepte eins zu eins umgesetzt. So hat sich der Taschenhersteller «Freitag» das Beste aus verschiedenen Modellen herausgezogen. Dabei schafft «Freitag» den Chef nicht nur bei den Bürojobs ab, sondern testet das auch im Produktionsbereich.
Leistung wird anders gemessen
Der Werkzeugkasten für neue Modelle wird indes immer grösser. Darunter sind viele ausgefallene Ideen: Manche plädieren dafür, Teams so zusammenzustellen, dass die Mitglieder je nach Schlaf-Wach-Rhythmus zusammenpassen. So sitzen keine Frühaufsteher morgens in Sitzungen mit Nachteulen, die noch gar nicht richtig wach sind. Viele Modelle stützen sich auf Studien darüber, wann und wie Menschen am leistungsfähigsten sind. In den USA haben Unternehmen den Fünf-Stunden-Tag eingeführt. Länger, so die Begründung, seien Mitarbeitende nicht wirklich effektiv. Etwa beim Streaming-Dienst Netflix gibt’s für alle unbegrenzte Ferientage. Das ist machbar, wird die Leistung nach Projektergebnissen und nicht nach abgesessenen Stunden gemessen. Dazu passt, dass immer mehr Unternehmen eine Jahresarbeitszeit einführen.
Die wöchentliche Höchstarbeitszeit könnte zugunsten einer Jahresarbeitszeit rechtlich in der Schweiz bald ganz fallen. Ein aktueller Vorstoss will das Arbeitsgesetz an die Realität anpassen. Denn die Grenze zwischen Arbeit zuhause, auf dem Weg ins und im Büro verschwindet. Mitarbeiter haben immer mehr individuelle Stundenbudgets, die standortunabhängig abgerechnet werden. Auch wenn laut Groeneveld noch viel Potenzial besteht: Das Teilzeit-Modell ist in fast allen Unternehmen angekommen, oft kann im Homeoffice oder in Coworking Spaces gearbeitet werden.
Mehr als die Summe der Teile
Diese Modelle setzen voraus, dass Unternehmer bereit sind, ihren Mitarbeitenden zu vertrauen und einen grösseren Organisationsaufwand zu stemmen. Aber eine ganze IT-Szene arbeitet an cleveren Lösungen, damit das so einfach wie möglich wird. Und wer es wagt, scheint zu profitieren. Unzählige Studien zeigen: Flexibilität macht zufriedener und produktiver. Unternehmen bekommen also mehr als die Summe der Teile. Wird Mitarbeitenden ein unbegrenztes Ferienbudget geschenkt, nehmen sie meist nicht mehr, sondern weniger freie Tage. Zuhause wird oft länger und effizienter als im Büro gearbeitet. Und letztlich steigt der Mehrwert, je besser die Zusammenarbeit zwischen Abteilungen klappt. Unter einer Bedingung: Der Zusammenhalt muss passen. «Menschen wollen flexibel arbeiten, sich aber von Zeit zu Zeit dennoch sehen», sagt Groeneveld.