Interview: Yvonne von Hunnius
Wer heute die Digitalisierung nicht als Fortschritt umarmt, ist von gestern – korrekt? Ja, wer nicht auf die steigende technologische, soziale und wirtschaftliche Vernetzung reagiert, droht unterzugehen. Trotzdem gleicht der Fortschritt einem goldenen Kalb. Wir diskutieren zu wenig über das Warum der Digitalisierung oder allgemein des technologischen Fortschritts. Wohin soll uns die Transformation eigentlich führen und warum?
Welche Risiken sehen Sie? Ich beobachte zwei unterschiedliche Konsequenzen der Digitalisierung in Bezug auf die Arbeit: Einerseits brechen alte Strukturen auf. Neue unternehmensübergreifende Strukturen und dezentrale Modelle entstehen. Wir sehen das in der Sharing Economy oder der Blockchain-Technologie. Diese Trends stehen für eine Wirtschaft ohne Bürokratie und eine Relativierung der Nationalstaaten. Andererseits sehen wir durch das Entstehen riesiger Plattformen oder das Comeback autoritärer Führungsfiguren und ihrer nationalen Rhetorik auch das Gegenteil. Auch im Netz entstehen neue zentrale Instanzen.
Was meinen Sie damit? Die Vorstellung, dass Netzwerke hierarchielos sind, ist falsch. Es gibt Verbindungen und Knotenpunkte. In diesen Hubs fliessen Humankapital, Kreativität, Daten und damit auch Geld zusammen. Das sind die neuen Machtzentren. Dabei gilt das «The Winner takes it all»-Prinzip, auch auf der Ebene der Wissensarbeitenden. Man spricht von der Superstar-Ökonomie, in der wenige sehr viel Geld verdienen, viele andere aber ums Überleben kämpfen. Zudem gibt es wirtschaftspolitisch neue Herausforderungen durch Informationsasymmetrien. Linkedin weiss zum Beispiel, wer im Zentrum des Netzwerks steht, weiss, wer sich für welche Themen interessiert. Instagram erkennt Influencer, die einflussreich sind, um Botschaften in Politik und Marketing zu verbreiten. Diese wertvollen Metadaten sind für reguläre Nutzer nicht zugänglich.
An welche positiven Entwicklungen können wir anknüpfen? Digitalisierung bedeutet eine Emanzipation von veralteten Arbeitsstrukturen und -vorstellungen. Zudem könnte der Einsatz von Drohnen, Robotern und anderen Maschinen dazu führen, dass sich der Mensch auf seine menschlichen Qualitäten konzentrieren kann. Dafür müssen wir unsere Fähigkeiten aber anders einsetzen – und Räumlichkeiten, digitale Hilfsmittel, Führungsvorstellungen, Karrieren, Weiterbildung und Lohnsysteme neu denken. Ich glaube an eine Potenzialwirtschaft, in der viel mehr Menschen ihre eigentlichen Fähigkeiten einbringen können. Eine Studie zeigte letztes Jahr, dass Manager glauben, dass sich 75 Prozent ihrer Mitarbeitenden bei der Arbeit langweilen. Das ist vergeudetes Potenzial, das es zu wecken gilt.
Wie kriegen wir das hin? Zunächst müssten Unternehmen konsequent auf Digitalisierung setzen und neue Rollen fördern. Es ist das Eine, dass es keine Kassen und somit Kassierer mehr in Supermärkten geben wird – das Andere ist, ob Supermärkte neue Rollen wie die von Ernährungsberatern entwickeln. Wichtig ist auch ein entsprechendes Führungs- und IT-Verständnis. Zudem hat die Schweiz nach wie vor grosses Handlungspotenzial bei der Förderung von Frauen.
Das erinnert an Arbeitsmodelle agiler Organisationen, die Chefs abschaffen, Mitarbeitende mit Rollen ausstatten – das greift stark in gängige
Unternehmenskulturen ein … Richtig. Wenn Unternehmen sich konsequent für die Digitalisierung und damit auch Dezentralisierung entscheiden, steht viel zur Diskussion: Lohnmodelle, Anreizsysteme, wie man Innovation oder auch Generationenwechsel organisiert. In welchen Formen machen Verwaltungsräte noch Sinn? Wie sehen Modelle für ältere Mitarbeitende aus? Das zeigt: Viele Fragen rund um die digitale Transformation sind Machtfragen. Ich glaube, dass nur jene Unternehmen prosperieren, die aufhören, Macht an der Spitze der Organisation zu bündeln.
Ist da noch Platz für die gängigen Berufskategorien? Die Zeiten, in denen wir einen Beruf erlernt und bis zur Rente ausgeübt haben, gehören der Vergangenheit an. Wir müssen in Rollen denken, auch, weil der technologische Fortschritt uns zum Weiterlernen zwingt. Im Rahmen einer Arbeitsbiografie, die deutlich länger als 65 Jahre dauern wird, werden wir Rollen wahrnehmen wollen, die zu den Fähigkeiten und Bedürfnissen unserer Lebensphase passen.
Aber wird wirklich alles, was in der Arbeitswelt digitalisiert werden kann, auch digitalisiert? Ja, aber natürlich gibt es eine entsprechende Gegenbewegung. In vielen Märkten wird es auch in Zukunft Menschen geben, die sich als Offliner betrachten und eine Präferenz für das Langsame, das Natürliche, das Haptische haben.
Und wo liegt die Grenze der Digitalisierung in einem modernen Unternehmen? Digitalisierte Arbeitsumgebungen werden gerade für grosse Unternehmen unausweichlich, sonst werden sie der Informationsflut nicht mehr Herr und können die Daten nicht nutzen, um zu lernenden Organisationen zu werden. Aber die Gefahr besteht, dass Monokulturen dem Innovationsgeist schaden. Das Prinzip der Echokammer gilt nicht nur für das Individuum sondern auch für ein Unternehmen als Ganzes. Dabei werden Perspektiven und Vorurteile bestätigt, gleichzeitig schwindet das Zufällige. Dazu braucht es zufällige Begegnungen an der Kaffeemaschine, in der Toilette, in Coworking Spaces – aber auch Gespräche, die über den Smalltalk und das Abnicken von Selbstverständlichkeiten hinausgehen. Deshalb müssen Unternehmen personalisierte Digitalisierung fördern, aber auch das Chaos kultivieren.
Was raten Sie jedem Einzelnen, um die Entwicklung in eine positive Richtung zu lenken? Es braucht von uns allen Verständnis für die Zusammenhänge und digitale Achtsamkeit. Wir müssen uns mit unserer persönlichen Macht auseinandersetzen. Wir sind Nutzer, Teilnehmer, Unternehmer und Bürger. Wir können uns für diese oder jene Suchmaschine entscheiden und mitbestimmen, wie in Zukunft Steuern erhoben werden. Reformen im Steuersystem werden nötig sein, falls wir als Gesellschaft die «The Winner Takes It All»- Mechanismen einschränken oder neue Informationsasymmetrien verhindern wollen.