Roman Boutellier hat sie alle gesehen: durchschlagende, vor sich hin
dümpelnde und krepierende Innovationen. Er war Manager und
ETH-Vizepräsident, berät heute Gründer, sitzt in Verwaltungsräten
grosser Firmen. Und er kennt den Feind jeder Innovation: Scheuklappen.
Interview: Yvonne von Hunnius
Können Sie das Wort «Innovation» überhaupt noch hören? Schon vor Jahren haben Kritiker gefordert, es aus dem Wortschatz zu streichen …
Roman Boutellier: Es ist wichtig, über Innovation und ihre Grundvoraussetzungen zu sprechen. Gerade im Dienstleistungsbereich hat der Innovationsgedanke noch viel zu wenig Beachtung gefunden. Riesiges Wachstumspotenzial haben die Themen «Gesundheit», «Freizeitwirtschaft», «Bildung». Überall dort ermöglichen Virtual-Reality-Anwendungen und Big-Data-Konzepte ganz neue Lösungen und Geschäftsmodelle.
Und für die Industrie ist der Begriff ausgereizt?
In der Industrie wurden in den letzten vierzig Jahren beliebig viele Betty-Bossi-Rezepte entwickelt, auf die zurückgegriffen werden kann. Und von den Erkenntnissen, die die Industrie gesammelt hat, können nun andere profitieren.
Was genau sollte man sich denn von der Industrie in punkto Innovation abschauen?
Alle sprechen von der Deindustrialisierung, doch man sollte die Industrialisierung der Dienstleistungsbranchen ins Zentrum stellen. Dabei kann in grossem Ausmass durch Automatisierung und Outsourcing mehr Effizienz erreicht werden. Und um Effizienz geht es schliesslich bei Innovation. Ein Beispiel: Wendet man Virtual-Reality-Programme in der Ausbildung von Chirurgen an, steigert das ihre Lernkurve massiv und sie beherrschen eine Technik vielleicht schon nach zehn statt 40 Operationen. Das ist für mich Innovation.
Für solche Ideen müssen Unternehmen aus unterschiedlichen Bereichen
zusammenarbeiten und darüber haben Sie einmal gesagt: «Innovation in der Schweiz wird dadurch verhindert, dass Unternehmen gute Ideen nicht teilen wollen.»
Das gilt leider immer noch, vor allem für Schweizer KMU, die sich vor Ideenklau fürchten. Bei Start-ups sieht die Sache anders aus. Sie wissen heute, dass sie für Innovationen auf Netzwerke angewiesen sind. Das zeigt sich in der dynamischen Clusterbildung in den Schweizer Ballungszentren: Selbst in stark digitalisierten Bereichen wie Fintech wird der geografische Standort wieder wichtiger. Start-ups sitzen dort, wo Kompetenzen zusammenfinden – in Zürich, Genf und auch in St. Gallen.
Wo man potenzielle Partner zufällig auf ein Bier trifft.
Ja – Netzwerke sind die moderne Umschreibung für das, was man früher Filz nannte. Man kennt sich, hat Vertrauen zueinander und kann auch schnellere Entscheidungswege finden, wenn es darauf ankommt.
Wenn Netzwerke wichtig sind für Innovation, dann sicher auch Initiativen, bei denen Konzerne Labs für Start-ups bereitstellen und sich erhoffen, dass der Innovationsgeist auf sie selbst abfärbt.
Das ist ein Trend, der sich nicht bewährt hat. Es ist ein Irrglaube, Start-up-Kultur in Konzerne integrieren zu können – das geht nicht auf. Konzerne und Start-ups haben jeweils ihre eigenen Vorteile, die auch durch die Grösse bestimmt sind. Diese kann man nicht einfach übertragen. Das ist auch ein häufiger Denkfehler bei Übernahmen: Kaufe ich als Grossunternehmen ein KMU, dann kaufe ich eine Organisation; kaufe ich ein Start-up, dann hole ich mir die Fachleute. Allein das ist schon viel wert. So läuft es ja auch in Basel, wo Novartis und Roche regelmässig Hunderte Biotech-Firmen prüfen, ob sie zu ihnen passen.
Und es werden immer mehr, die Lust aufs Gründen bekommen – wie haben Sie diese Entwicklung an der ETH und HSG miterlebt?
Ich erinnere mich, dass noch vor 30 Jahren die wenigsten Studierenden ernsthaft geglaubt haben, dass es vernünftig wäre, ein Unternehmen zu gründen. In den letzten Jahren habe ich viele junge Leute gesehen und auch begleitet, die etwa während der Promotionszeit mit grossem Engagement ein Start-up hochgezogen haben.
Haben die Schweizer also langsam den Fluch überwunden, zwar gut im Erfinden zu sein, dafür aber schlecht darin, Innovationen in den Markt zu bringen?
Heute mangelt es nicht an Ideen oder Kapital. Der Engpass liegt bei Business Angels, die mit ihrem Geld auch ihre Erfahrung einbringen und die Gründer aktiv unterstützen. Wir haben in einer Dissertation auch klar festgestellt, dass die Start-ups frisch ab Hochschule tendenziell weniger erfolgreich waren als diejenigen, die aus einem Unternehmen heraus gegründet wurden. Letztere haben einfach mehr Business-Erfahrung.
Muss es also erst der Corporate-Job sein, bevor gegründet wird?
Ich würde mir einfach nur wünschen, dass junge Menschen ähnlich wie Zimmerleute für ein bis zwei Jahre im Ausland auf die Walz gehen. Ob dann eine reguläre Arbeitsstelle oder ein Start-up ansteht: Es ist immer gefragt, Arbeitserfahrung in einer anderen Kultur gesammelt und Projekte geleitet zu haben.
Damit meinen Sie keine Remote-Arbeit von einer Insel in Thailand?
Das ist etwas anderes. Ich beobachte, dass sich viele zwar Teilzeit wünschen, um zu reisen, doch Mühe damit haben, für einen bestimmten Zeitraum fix im Ausland zu arbeiten. Dabei vergrössert solch eine Phase nicht nur das Netzwerk. Dadurch wird man offener für die Zusammenarbeit mit Andersartigkeit – in Teams, in der Lösungsfindung. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Hälfte der weltweit umsatzstärksten Unternehmen der Fortune-500-Liste von Immigranten oder deren Kindern gegründet wurden.